[Dingler: Das Geltungsproblem]

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Hugo Dingler: Gesammelte Werke

In: Naturwissenschaft, Religion, Weltanschauung. Arbeitstagung des Gmelin-Instituts für anorganische Chemie und Grenzgebiete in der Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften. (Clausthaler Gespräch 1948), Clausthal-Zellerfeld 1949, S.272-297. 

Das Geltungsproblem als Fundament aller strengen Naturwissenschaften und das Irrationale
 

Prof. H. Dingler, München 

Es scheint mir ein wundervoller Gedanke von Herrn Prof. Pietsch gewesen zu sein, einmal die entgegengesetzten Bestrebungen, die sich heute im Geistigen bemerkbar machen, an einer Stelle friedlich sich nebeneinander aussprechen zu lassen. Wenn ich der ehrenvollen Aufforderung, auch von meiner Seite ein Kleines hierzu beizutragen in dieser Arbeitsgemeinschaft, gefolgt bin, so geschah es, um einige Gedanken beizusteuern, die ich seit nunmehr etwa 45 Jahren konsequent verfolgt und immer weiter ausgebaut habe und die vielleicht da und dort dem einen oder anderen eine Anregung zu geben vermögen. Außerdem wollte ich die Gelegenheit ergreifen, einige neue Ergebnisse der methodischen Forschung mitzuteilen. Unser aller Ziel ist es ja, nach der Wahrheit zu suchen, und zwar nach den tiefsten Wahrheiten, die den Menschen angehen können, und dazu ist es zunächst nötig zu versuchen festzustellen, was denn Wahrheit überhaupt ist, die Frage zu beantworten, wo und auf welche Weise eine völlig gesicherte Geltung von Aussagen über das Wirkliche überhaupt gewonnen werden kann. Das aber sind zunächst methodische Fragen.

Da gilt es nun zuerst eine prinzipielle Unterscheidung zu treffen, die schon die alten Griechen gefunden haben, und die zentral entscheidend für unsere Fragestellung ist: die Unterscheidung zwischen dem Allgemeinen oder Universalen auf der einen Seite und dem Einzelnen oder Singularen auf der anderen. Das Unmittelbare, das Einzelne, das Singulare, das wir erleben, in Worten auszusprechen, diese Art des Geltungsproblems ist relativ recht einfach. Hier gilt das alte Wahrheitskriterium der adaequatio rei et intellectus: Wenn wir ein solches Erlebnis objektiver Art ehrlich in Worte fassen, dann gilt eben diese Aussage für uns und andere.

Das viel schwierigere und für alle Wissenschaften entscheidendere Problem erhebt sich, wenn es darum geht, Allgemeines, Universales zu behaupten. Niemand kann ein Universales, nämlich ein echtes, unendliches Universales unmittelbar als solches erleben. Denn niemand kann alle Fälle von etwas, das immer und überall richtig sein soll, zugleich vor sich haben oder erlebt haben, auch nicht alle Menschen zusammen. Dennoch streben unsere entscheidenden naturwissenschaftlichen Aussagen danach, solche Aussagen zu werden, nämlich Gesetze. Wie können wir volle Sicherheit gewinnen, daß solche Gesetze wirklich universal sind? Wir können stets nur einige wenige Fälle nachprüfen. Finden wir diese Fälle stets von gleicher Art, so glauben wir ein Recht zu haben, zu sagen, daß hier ein universales Gesetz vorliege. Das ist keine adaequatio, sondern viel mehr. Man spricht dann von einem Prinzip der Induktion, welches erlaubt, aus diesen wenigen Fällen auf die unendliche Zahl der »möglichen« zu schließen. Th. Lipps hat es einmal als das große Rätsel bezeichnet, wie das möglich sei.

Man pflegt heute zu sagen, daß die Welt eben so beschaffen sei, daß das möglich ist. Aber diese Aussage ist selbst zuletzt unbewiesen. Denn außer den Fällen, wo das Prinzip tatsächlich sich bewährt, haben wir keinen Beweis, keine wirkliche Begründung dafür. Es liegt hier also eine Annahme über eine als metaphysisch zu bezeichnende Eigenschaft der Gesamtwelt vor. Das aber wäre einer der geheimnisvollsten und rätselhaftesten Umstände, die es geben kann. Woher sollten wir von dieser Eigenschaft der Gesamtwelt wissen, eine Eigenschaft, die über alles Einzelne hinausgeht und der Welt sozusagen ein ganz einheitliches Wesen aufzwingt, wo doch unser ganzes Welterleben sonst ausschließlich aus Singularem besteht? Hier stoßen wir also schon an der Basis unserer Naturwissenschaft auf das große Rätsel, auf einen Sprung, einen tatsächlich unendlichen Sprung, der jedesmal ohne echten Beweis vollzogen wird, wenn durch Induktion von einigen Einzelfällen auf unendlich viele extrapoliert wird. Was ich da sage, ist ja nichts Neues, jeder methodisch Denkende ist sich dieses Umstands seit langem genau bewußt gewesen. Alle induktive Wissenschaft schwebt also über eine Begründungslücke.

Erfaßt man aber die Natur allein durch die Messung, so kommt ein weiterer Punkt der Unsicherheit hinzu. Alle sind sich darüber einige, daß jede Messung nur approximativ, niemals ganz genau sein kann, und daß man dieselbe Messungsreihe durch unzählige sehr verschiedene Funktionen approximieren kann. Also müssen alle auf Messungen beruhenden Aussagen an dieser weiteren Unsicherheit teilhaben.

Diese Feststellungen haben für die praktische Forschung nur recht wenig Bedeutung. Der praktische Forscher ist an sie gewöhnt, er hat seine erprobten Methoden und wie wenig diese Unsicherheiten ihn stören, zeigen die märchenhaften praktischen Erfolge unserer Physiker, Chemiker und Biologen. Um so größer ist aber die Bedeutung dieser Feststellungen für den, der über das praktische Forschen hinaus seinen Blick auf das Ganze und Prinzipielle richtet. Denken wir uns einen Menschen unserer Zeit, der in dem sauberen und nüchternen Willen, die Welt zu nehmen wie sie ist, sich ganz auf die Wissenschaft verlassen möchte. Es gibt ungezählte ernste und gutwollende Menschen, die sich heute in dieser Lage befinden. Die Aussagen der alten Religionen, die sich auf die Beschaffenheit der Welt, auf den Menschen und seine Stellung in ihr beziehen, scheinen seiner naturwissenschaftlichen Kritik nicht standzuhalten, er hat sie also beiseitegelegt und sich entschlossen, sich allein auf die Wissenschaft zu stützen, als auf das relativ Sicherste, was er zu finden vermag. Diese Wissenschaft aber liefert ihm heute neben den wundervollsten Einzelergebnissen in dem, was ihm als Menschen am wichtigsten ist, in diesem Allgemeinen, nur Unsicherheiten und Hypothesen. Eine völlige Sicherheit kann er nirgends finden. Die Wirkung einer solchen Sachlage auf den Einzelnen kann recht verschieden sein. Der eine trägt sie mit Resignation und lebt eben so gut und recht sein Leben weiter, als es geht, der andere aber leidet darunter. Alle aber müssen sich wie treibende Korken fühlen, die auf einem unendlichen Meere umhergeworfen werden, ohne feste und gesicherte innere Einstellungen finden zu können. Dieser Umstand wird gerade in Zeiten der Nöte und Katastrophen besonders bitter empfunden werden und die große Menge derer, die nicht die Zeit und die geistige Kraft haben, sich selbst mit den Problemen zu befassen, wird völlig richtungslos sich dem Wüten der Stürme ausgeliefert finden.

Diese Überlegungen zeigen, wie tief die Ungelöstheit des Geltungsproblems auch in das allgemeine menschliche Leben eingreift. Und man kann mit Sicherheit aussprechen, daß wohl in jeder Menschenseele ein stilles Sehnen nach einer letzten Sicherheit der Einsicht lebt, wie schon Augustin es in seinen Soliloquien klassisch zum Ausdruck gebracht hat. Für sämtliche heute auf der Welt vorhandenen sog. Weltanschauungen ohne Ausnahme liegt hier der schwache Punkt. Es wäre also verständlich, wenn alle Denker sozusagen Tag und Nacht dieses Problem, wie eine letzte Sicherheit des Denkens zu gewinnen wäre, verfolgen würden. Dem ist aber leider nicht so. Das Problem hat früher alle Philosophen tief beschäftigt, heute sitzt es sozusagen zwischen zwei Stühlen. Die Naturwissenschaftler begnügen sich mit ihren ungeheuren praktischen Fortschritten und vermögen im Prinzipiellen nur Hypothesen zu geben. Die Philosophen aber trachten heute das Problem des Menschen direkt anzugehen, ohne vorher das Methodische völlig geklärt zu haben. Bewegen sich die einen ganz im Gebiete des Rationalen, so suchen die anderen im Irrationalen Fuß zu fassen, beide ohne vorher das Methodische erledigt zu haben und daher ohne Sicherheit gewinnen zu können.

Die Menschen aber schreien innerlich nach irgendeinem festen Grund, auf dem sie stehen können. Wenn wir uns diese geistige Lage vor Augen halten, so verstehen Sie wohl, wie ich meinen kann, mit einer Besprechung des Geltungsproblems auch einen kleinen Beitrag zu dieser Tagung zu leisten, welche sich die letzten Probleme zum Gegenstand gemacht hat, die den Geist unserer Zeit bewegen.

Dieses Drängen nach einem festen Grund macht sich schon lange in der europäischen Geistesgeschichte geltend. Es hat als letzte Triebfeder schon bei den klassischen Griechen und im Mittelalter seine Wirkung getan und es trat von neuem auf, als die mittelalterlichen Überzeugungen und Bindungen an die Kirche sich langsam zu lockern begannen und der Betrachter der Geistesgeschichte kann dasselbe Drängen als eine der entscheidenden Signaturen der neueren Zeit erkennen. Die Lösungsversuche für dieses Drängen bestimmen immer deutlicher das gesamte geistige Geschehen im Großen.

Die großen Erfolge der exakten Wissenschaften im 17. Jahrhundert bringen im Rationalismus einen ersten großen Lösungsversuch. Hier schien die Vernunft die Fähigkeit zu erweisen, wirklich Sicheres zu geben. Bis unter der Kritik I. Kants dieser Glaube zusammenbrach. Das 19. Jahrhundert brachte im sog. mechanistischen Weltbild einen neuen großen Versuch dieser Art. Aber auch dieser konnte einer vertieften Kritik nicht ganz standhalten, zumindestens enthielt er, wie z.B. Du Bois-Reymond zeigte, entscheidende Lücken, abgesehen davon, daß auch die Axiome selbst, auf die er sich stützte, so richtig sie zu sein schienen, keine absoluten Bewiesenheit hinter sich hatten. Aber alle diese Versuche, die dann zu sog. Weltanschauungen ausgebaut wurden, waren Versuche des zum selbständigen Denken erwachten Menschen, sich geistig auf festen Boden zu stellen. Man wollte versuchen, sich von Selbsttäuschungen zu befreien, sich ganz nüchtern und fern von allen sog. Ammenmärchen über die Lage des Menschen klar zu werden, sich keine rosa Brillen mehr zu gestatten und nur das sog. Wirkliche anzuerkennen, weil es das Einzige zu sein schien, das volle Sicherheit bot. Man wollte ernst machen mit diesem Wirklichen, man war bereit, tapfer ja zu sagen zu ihm, wie es auch schließlich aussehen mochte. Wenn es nun einmal nichts anderes gab, nun gut, dann mußte man eben versuchen, sich damit abzufinden und sich auf dieser Basis ernsthaft einzurichten. Das ist ohne Zweifel eine ernste und männlich Haltung, die auch als eine ethische empfinden. Was aber war dieses Wirkliche?

Eine weitere Linie, dieses Ziel zu verfolgen, das Eigentliche der Welt festzustellen, führte schon in der englischen Aufklärung zu dem erkenntnistheoretischen Sensualismus. Dieser lehrte, daß alles, was wir von der Außenwelt haben, nur Sinneswahrnehmungen, Sinnesflecken seien. Für diese Anschauung wurde die Welt zu einer Art von Fleckenteppich, einem unverständlichen Film, den eine unbekannte Macht aus unbekannten Gründen vor mir ablaufen läßt. Eigentlich war ich dann ganz allein der Zuschauer dieses Films, da auch meine Nebenmenschen nur Flecken auf diesem Film waren. Wenigstens gab es anerkannterweise keine Möglichkeit, irgendetwas Mehr mit Sicherheit auszusagen.

Es war das oben gekennzeichnete Bedürfnis nach nüchterner reiner Wirklichkeitsnähe und Sachlichkeit, das manche veranlaßte, zur Lehre des Materialismus zu greifen. Diese allein schien nämlich vor dem Sensualismus retten und die Welt zu einer greifbaren Wirklichkeit machen zu können.

Wiederum müssen wir die Wichtigkeit des Geltungsproblems erkennen. Im besten Glauben, das eigentlich Wirkliche zu ergreifen, hatte das 19. Jahrhundert zum materialistisch-mechanistischen Weltbild gegriffen, hatten Avenarius und Mach die Welt auf Sinnesempfindungen beschränkt. Aber auch hier fehlte überall die letzte Sicherung.

An dieser Frage der Sicherheit hing aber für den modernen naturwissenschaftlich gerichteten Menschen auch seine ganze tiefere Weltanschauung, nämlich die Frage, wie der Mensch in der Welt steht, was es mit dem Verhältnis von Leib und Seele auf sich hat, wo sich etwa metaphysische Kräfte zeigen könnten, wie das Verhältnis zum Nebenmenschen zu denken |

276 sei, wie das Verhältnis zum Ganzen, zu Gott. Wenn es überhaupt nirgends eine volle Sicherheit gibt, sondern nur approximative Messungen und Hypothesen, wie in der Naturwissenschaft, dann bedeutet das für den Menschen eine sehr tragische Situation. Wenn es nichts Sicheres gibt, dann hängen die Antworten auf diese zentralen Fragen nur an den tastenden Versuchen einiger Forscher, Hypothesen über diese Antworten aufzustellen. Das bedeutet insbesondere für den allgemeinen Menschen, der nicht selbst Forschungen vornehmen kann, eine tiefste Erschütterung und völlige Unsicherheit in seinen letzten Richtlinien. Das ist in steigendem Maße die Signatur unserer Zeit.

Die Naturwissenschaft vermag nach ihrer eigenen heutigen Auffassung nur approximative Messungen und Hypothesen zu geben, niemals also absolut eindeutige und absolut bewiesene Aussagen. Solche aber braucht die Philosophie und die Weltanschauung. Es kann dem Menschen nicht genügen zu erfahren, daß Gott oder das Fremdseelische oder die Existenz der Außenwelt eine Hypothese sei, oder daß diese Aussagen etwa bis zur fünften Dezimalstelle gesichert seien, oder daß sie etwa so und so »wahrscheinlich« seien. Der Naturforscher kann und muß sich mit partiell unsicheren Aussagen begnügen. Die Bedürfnisse der Weltanschauung aber verlangen absolut eindeutige Antworten auf die fundamentalen Fragen. Man darf daher das Forschen in dieser Richtung nicht einstellen, um so mehr als keinerlei Beweis vorliegt, daß man sich mit den nicht völlig sicherbaren Aussagearten, welche der praktischen Naturwissenschaft allein zur Verfügung stehen, begnügen müsse, wie das oft behauptet wird. Vielmehr liegt der Beweis des Gegenteils vor.

Ich sage das alles, um zu versuchen, Ihnen die weittragende Bedeutung dieses Gesichtspunktes der Sicherheit, des Geltungsproblems, recht vor Augen zu führen.

Um die Wende des 19./20. Jahrhunderts begann das rein scientifistische Weltbild, wie es sich besonders im mechanistischen Weltbild darstellte, nicht mehr voll zu befriedigen. Es begann sich auch in streng wissenschaftlichen Kreisen die Empfindung zu verbreiten, daß damit doch nicht das Ganze der Welt gedeckt sei. Das Bekenntnis Du Bois-Reymonds zum Ignorabimus, sein Hinweis, daß das Bewußtsein und die phänomenalen Erlebnisse mechanisch nicht erklärbar seien, hatte tiefen Eindruck gemacht. Die Versuche, eine Ethik auf dieses scientifistische Weltbild zu gründen, hatten offensichtlich versagt und mußten schon aus logischen Gründen versagen, da man aus Ist-Sätzen keine Soll-Sätze ableiten kann. Trotz den ungeheuren Erfolgen, welche die Entwicklungslehre gebracht hatte, traten bei manchen Forschern angesichts der ungeheuren Komplikationen Zweifel auf, ob diese wirklich mechanisch erklärbar seien. H. Driesch suchte diese Zweifel sogar durch angebliche Beweise zu unterbauen.

Trotzdem aber wirklich bindende Beweise nirgends vorlagen, machten sich nun manche Forscher daran, irrationalen Elementen in der Wissenschaft Raum zu geben, um die Einseitigkeit des scientifistischen Weltbildes zu durchbrechen und der gefühlten Irrationalität des Daseins gewaltsam Platz zu schaffen. An verschiedenen Stellen, wo die streng kausale Erklärung noch nicht voll durchzugreifen vermocht hatte, schritt man nun zu der Behauptung, daß hier ein Punkt sei, wo das mechanisch-rationale Weltbild versage. Hier also rage ein Irrationales, Metaphysisches herein. Da man das kausal-mechanistische Weltbild für eine allumfassende Aussage über das Wirkliche hielt, so schien die einzige Möglichkeit, sein Monopol zu durchbrechen, die, daß man nach Lücken in ihm suchte. Es gab daher viele, die es mit Jubel begrüßten, wenn sich eine solche Lücke gefunden zu haben schien. Dies war ein starker Umschwung der Einstellung gegenüber dem 19. Jahrhundert. Aber wirkliche echte volltragende Beweise gab es nirgend und sie wollten nirgends gelingen.

Die Stellen, wo angeblich die kausal-mechanistische Erklärung versagte, mußten sozusagen geglaubt werden. Einen wirklich bindenden Beweis für dieses Versagen hatte niemand geführt. Auch hier zeigt sich wieder die große Lücke. Wie wichtig wäre es gewesen, starke Kräfte darauf zu verwenden, nun endlich einmal die methodischen Fragen ganz streng zu klären, die hier überall zugrunde lagen. Aber die Einzelforscher waren mit ihrer Spezialwissenschaft beschäftigt und die Philosophie - immer noch benommen von ihrer großen Niederlage im deutschen Idealismus um 1830 - wagte es nicht mehr, in die Bereiche der strengen Wissenschaft einzugreifen und besaß auch damals nicht die Mittel dazu.

Einen Punkt können wir hier schon festhalten: Sollte über die Stellen, wo angeblich das Irrationale hereinspielte, Sicherheit gewonnen werden, so konnte das sozusagen nicht an Ort und Stelle entschieden werden. Diese Sicherheit konnte nur dadurch gewonnen werden, daß man sich zuerst über das Rationale und seine Tragweite im Ganzen völlig klar wurde. Erst relativ zu einer solchen Klärung konnte sich dann ergeben, wo wirklich Irrationales vorlag. Um aber die Frage des Rationalen endgültig zu klären, war wiederum die Lösung des Geltungsproblems nötig.

Man kann mit genauen methodischen Überlegungen ziemlich leicht beweisen, daß es unmöglich ist, ein Gebiet als irrational nachzuweisen, ohne das Problem des Rationalen vorher gelöst zu haben. Man kann ohne diese Lösung nämlich eine prinzipielle Unmöglichkeit der rationalen kausalen Erklärung nicht von einer nur temporären unterscheiden. Temporäre gibt es stets in jeder Wissenschaft. Für die Weltanschauung ist aber gerade diese Unterscheidung das Entscheidende; denn nur sie entscheidet zwischen Mechanischem und Irrationalem.

Ist nun diese Lösung des Geltungsproblems überhaupt möglich? Wir haben uns bisher schon von seiner entscheidenden Rolle überzeugt. Ich habe in einem Buche »Der Zusammenbruch des Wissenschaft und der Primat der Philosophie« 1926 zu zeigen gesucht, wie dieses Problem oft im stillen, oft ganz bewußt den Gang der Geistesentwicklung in den letzten zweieinhalbtausend Jahren bestimmt hat. Es ist also gewiß gerechtfertigt, sich immer wieder um die Lösung zu bemühen. Diese Lösung ist in der Tat möglich.

Wenn man sich zunächst nach einfachen Indizien dafür umschaut, wie die Lösung dieses Geltungsproblems aussehen könnte, so stößt man bald auf folgende Überlegung: Betrachtet man eine Allgemeinaussage A und fragt nach deren Begründung, dann besteht diese Begründung aus Allgemeinaussagen B. Für diese erhebt sich wieder die Frage der Begründung und führt auf Aussagen C, für diese wieder usf. Man sieht, daß die Forderung einer Vollbegründung auf eine unendliche Reihe von Begründungsschritten führt, auf einen sog. unendlichen Regreß, der niemals durchlaufen werden kann. Soll also eine wirkliche Vollbegründung einer Aussage möglich sein, so muß dieser unendliche Regreß irgendwo derart abbrechen, daß keine Lücke hinter ihm entsteht. Das ist aber nur möglich, wenn das letzte Glied mehr bedarf, sozusagen Grund seiner selbst ist. (Das ist nebenbei der formal logische Grund dafür, daß schon in den Urzeiten die Menschen den ersten Gott sich selbst erzeugen ließen. Denken Sie an Goethes: Im Namen dessen, der sich selbst erschuf, denken Sie an Osiris, an Brahma, an die causa sui ipsius des Mittelalters.) Drücken wir dieses Resultat philosophisch aus, so heißt es: Alle mittleren Glieder der Begründungskette sind gebunden, das letzte Element aber stammt aus der Freiheit. Die einzige Freiheit aber, die uns unmittelbar zugängig ist, ist unser eigener Wille. Wir kommen also auf diese einfache Weise zu dem absolut zwingenden Resultat: Alle Aussagen, die wirklich voll begründet sind, müssen zuletzt in unserem Willen wurzeln, oder durch Konversion: Eine Allgemeinaussage, die nicht in unserem Willen wurzelt, kann niemals voll begründet sein, ist also immer im Prinzipiellen mit einer gewissen Unsicherheit behaftet.

Das klingt nun banal. Man wird sagen, wir haben schon vorher gewußt, daß, wenn wir etwas selbst festsetzen, es dann gilt. Wenn wir aber nun aus dem Gesagten schließen: wenn Logik, Arithmetik, Geometrie z.B. voll begründet werden sollen, so müssen sie zuletzt in unserem Willen wurzeln, so scheint das dem heutigen Forscher nicht so sehr banal als vielmehr absurd. Und doch müssen wir einmal dem Absurden ins Auge sehen, wenn wir dadurch das Geltungsproblem der exakten Wissenschaften zu lösen vermögen. Es muß mindestens einmal versucht werden, damit Ernst zu machen. Denn es ist tatsächlich die einzige und letzte Möglichkeit, die uns geblieben ist, das Geltungsproblem zu einer vollen Lösung zu bringen, von dessen tiefgreifender Bedeutung wir uns überzeugt haben.

Diese Lage ist aber gar nicht so absurd und so neu, wie sie dem heutigen Forscher erscheinen mag. Schon Kants große Umwälzung bestand ja darin, daß er vieles von den Wurzeln der fundamentalen exakten Wissenschaften in uns selbst verlegen wollte, wozu sich schon bei Leibniz gelegentlich Ansätze finden, ebenso bei Galilei und Torricelli. Wirklich gelöst aber kann das Problem nur sein, wenn genau festgestellt wird, wieviel in der Tat aus uns selbst fließt. Dieser Aufgabe habe ich seit jeher meine Studien gewidmet, und ich kann heute sagen, daß sie durchführbar ist.

Die Forderung, aus dem Willen heraus gewisse Wissenschaften aufzubauen, verliert sofort ihre scheinbare Absurdität, wenn man sich klar macht, daß der Ursprung aus dem Willen lediglich darin besteht, daß man am Anfang genau feststellt, was man eigentlich will. Und dies ist ja in der Tat eine logische Selbstverständlichkeit; denn wenn ich nicht weiß, was ich will, dann kann ich auch gar nichts Bestimmtes ausführen. In der Tat wird dieser Forderung auch meist unbewußt und in verdeckter und unzulänglicher Form Rechnung getragen. Wir müssen also als Erstes sozusagen einen Plan aufstellen für unser Unternehmen, vollbegründete Wissenschaft zu erhalten.

Wir wollen also eine Wissenschaft von Allgemeinaussagen, die sich aus einfachsten Elementen, die wir völlig in der Hand haben, in kleinstmöglichen Schritten, die alle bewußt sind, so aufbaut, daß jeder Schritt eindeutig und in dem benutzten Sinne vollbegründet ist. Daraus folgt schon, daß diese Wissenschaft sich allein aus sog. Ideen aufbauen muß, denn nur die haben wir völlig in unserer Hand, während von allen Dingen und Elementen der äußeren Wirklichkeit dies niemals gesagt werden kann. Man kann ferner leicht einsehen, daß das einzige Bauelement für diese Ideen die Verschiedenheitsrelation sein muß. Ich kann das ja hier nur andeuten.[1])

Beginnen wir diese Wissenschaften aufzubauen, so müssen wir offenbar programmgemäß anfangen mit der einfachsten Idee, die durch das alleinige Mittel der Verschiedenheit aufgebaut werden kann. Das aber ist die Idee des »Etwas«. »Etwas Unterschiedenes überhaupt« ist also notwendig die erste Idee unseres systematischen Aufbaues. Daß diese eine Idee ist, geht daraus hervor, daß es kein Ding in der Welt gibt, das nur diese Eigenschaft hat. Alle wirklichen Dinge haben ja ungezählte Eigenschaften.

Diese einfachste Idee des Etwas kann nur in zwei Richtungen oder Hinsichten Besonderheiten aufweisen: 1. sie kann betrachtet werden hinsichtlich ihrer selbst oder hinsichtlich ihrer Grenzen, 2. sie kann konstant oder variabel sein. Wir erhalten also folgendes Schema:

a) Etwas Unterschiedenes überhaupt, konstant.

b) Etwas Unterschiedenes überhaupt, variabel.

c) Etwas Unterschiedenes überhaupt, betrachtet hinsichtlich seiner Grenze, konstant.

d) Etwas Unterschiedenes überhaupt, betrachtet hinsichtlich seiner Grenze, variabel.

Gehen wir nun daran, jeden Fall dieses Schemas nach den Forderungen unseres Planes zu behandeln, d. h. zunächst die einfachste Idee seiner Art aufzustellen und mit dieser dann synthetisch höhere Kombinationen auf|zubauen, so erhalten wir vier vollbegründete Wissenschaften: a) die Arithmetik, b) die Lehre von der Variabeln und der Zeit, c) die euklidische Geometrie, d) die Kinematik und Newtonsche Mechanik. Wir wollen diese vier Wissenschaften unter dem Namen der »Formwissenschaften« zusammenfassen.

Die Durchführung dieses Aufbaues braucht jeweils nur bis zu den sog. Axiomen geführt zu werden. Der weitere Aufbau ist ja dann bekannt. Die Ableitungen, die nach langen Bemühungen schließlich gelangen, können hier natürlich nicht durchgeführt werden.

Das, was gemäß dem Plane aus den vier Fällen des Schemas aufgebaut werden kann, ist die Gesamtheit dessen, was an reinen eindeutigen Ideen, die sich nur der Verschiedenheit als Eigenschaft bedienen, überhaupt gewonnen werden kann. In diesem Bereich kommen nur die Begriffe: Verschiedenheit, Etwas, Grenze von Etwas und Veränderung (d. h. auch Bewegung), sowie in der Mechanik die logische Bestimmtheit einer Bewegung durch andere Umstände vor. Dieser Gesamtbereich ist durch unser Schema genau umschrieben. Wir haben also hier den Vollständigkeitsbeweis für diese Gruppe der absolut begründeten Wissenschaften vor uns. Andere als die genannten gibt es nicht. Ich darf daran erinnern, daß die Vollbegründbarkeit dieser vier Wissenschaften von uns her nicht wunderbar ist, da sie ja nur ideelle Formen mit methodischem Zweck darstellen.

Trotz ihrer von uns ausgehenden Begründung besitzen jedoch diese vier Formwissenschaften zugleich volle Realgeltung, allerdings auf eine besondere Weise, die ich hier nur andeuten kann. Diese Formwissenschaften enthalten ja an sich nur rein ideelle Elemente, d. h. keinerlei sog. empirische Elemente. Ihr Verhältnis zur Wirklichkeit erhalten sie dadurch, daß diese Formen nun an wirklichen Gegenständen realisiert werden, und zwar mit einer jeweilig möglichsten Genauigkeit, die einem genau verfolgbaren Prozeß stetiger Verbesserung unterliegt (Genauigkeitsprozeß). Alle diese Zahlenverhältnisse, geometrischen und Bewegungsformen, und rein mechanischen Vorgänge werden von uns auf verschiedenste Weise an wirklichen Gegenständen herausgeformt und so in die Wirklichkeit übergeführt. Das Hauptprodukt solcher Realisierung kennen Sie alle, es sind unsere Meßapparate, soweit diese eben von menschlicher Hand geformt werden, was in allen wesentlichen Hinsichten der Fall ist. Ferner finden sich diese Realisierungen in den meisten Gebieten der Technik, wo sie das Mittel genau vorausbestimmbarer und mathematisch beherrschbarer Gestaltungen sind.

Neben dem Verfahren der Realisierung kommt hier noch das Verfahren der Exhaustion zur Wirkung, um die Realgeltung der vier Formwissenschaften zu erreichen. Die Exhaustion besteht darin, daß auch in Fällen, wo keine direkte Realisierung vorliegt, die Formen der Formwissenschaft in geistiger Weise eingeführt werden. So geschieht es z.B., wenn wir uns beim sog. Ansatz sowie bei der Berechnung von Vorgängen der Formeln der Formwissenschaften bedienen.

Der Sinn und Zweck dieser Realisierungen ist nun folgender: Die Ideen unserer Formwissenschaften beherrschen wir logisch und vorstellungsmäßig genau. Durch logische Prozesse, die fast stets in mathematischer Form auftreten, können wir ihre Eigenschaften genau feststellen und manuell beherrschen. Ein Apparat, eine Vorrichtung, die solche Realisierungen aufweisen, sind in allem, was diese Formungen betrifft, unserer mathematischen Behandlung zugängig, so daß wir sie und ihre Konsequenzen weitgehend beherrschen. Diese Formen stellen also das einzige Mittel dar, um ideell eindeutig bestimmte Formen in der Wirklichkeit in völlig eindeutiger, stetig sich verbessernder Art herzustellen und geistig zu beherrschen. In ihnen liegt also das einzige Mittel vor, in die sonst fließende Natur eindeutig feste und stets genau reproduzierbare Formen hineinzutragen. Das ist das Geheimnis unserer exakten Meßapparate. Auf diese Weise schaffen wir in der Natur sozusagen ein genaues, festes, stets genau reproduzierbares Gerüst, das uns erlaubt, eindeutige Begriffe in dieser festzulegen. Nur durch solche Gerüste vermögen wir viele Umstände der Natur in stetig wachsender Zahl derart in feste Rahmen einzufangen, daß sie eindeutig reproduzierbar werden. Das Resultat dieser Tätigkeiten sind unsere exakten Naturwissenschaften und die Konstanz ihrer mathematischen Gesetze, soweit diese exakter und messender Art sind. Ebenso ist der größte Teil der Technik, darunter insbesondere die sog. Präzisionstechnik, ein Produkt dieses Vorgehens.[2])

Damit aber enthüllt sich uns das eigentliche Wesen aller exakten Naturbeherrschung, und es eröffnet sich uns ein tiefer Einblick in das Verhältnis von Denken und Wirklichkeit. Man kann nicht sagen, daß die Natur selbst alle diese ideellen Formen, aus denen wir unsere Apparate herstellen, schon in fertiger Form enthalte, außer etwa in zufälligen Einzelfällen und dann nur angenähert. Die so gewonnenen mathematischen Naturgesetze sind also in erster Linie als Reproduzierbarkeiten durch unsere ideellen Formen zu charakterisieren. Ob man sagen will, daß sie selbst schon in der Natur fertig vorliegen, ist mehr eine Frage der Redeweise. Wir sahen soeben, wie entscheidend die von uns geschaffenen ideellen Formen bei der Feststellung aller messenden Naturgesetze mitwirken, ja diese erst überhaupt definieren, reproduzierbar machen und sozusagen aus der fließenden Natur herausschneiden. Sie liegen also oft nicht stärker in der Natur als etwa die Statue in dem Marmorblock liegt, aus dem sie der Künstler herausmeißeln will. Etwas anders steht es mit den Erscheinungen, die nicht oder noch nicht völlig durch unsere ideellen Formen selbst darstellbar sind. Diese benötigen noch bestimmter Naturkonstellationen, sind also von dieser Seite her empirisch, aber teilweise sind sie schon von den ideellen Formen abhängig, da sie durch Apparate gemessen werden, und in einem komplizierten Prozeß werden sie sozusagen von ideellen Formen immer mehr umgarnt, um sie immer mehr durch unsere eigenen Formen eindeutig bestimmbarer und so immer eindeutiger reproduzierbar und aussprechbar zu machen. Hier liegen also Mischungen der ideellen und empirischen Elemente vor. Der methodischen Forschung ist hier im Einzelnen noch ein reiches Feld gegeben.

Unsere ideellen Formen sind nun auch »das Allgemeine« im strengen Sinn innerhalb der Naturwissenschaft. Alles, was durch sie völlig dargestellt ist, ist auch völlig allgemein. Alles, was nicht so dargestellt ist, ist auch nicht völlig allgemein, kann stets noch unbekannten Bedingungen unterliegen, die seine Allgemeinheit einschränken.

Damit haben wir nun einen, zwar nur skizzenhaft geschilderten, aber dem sinne nach doch vollständigen Einblick in die Art erhalten, wie der Mensch die Natur exakt bewältigt, wie allgemeine Naturgesetze überhaupt entstehen, was ihre Allgemeinheit bedeutet und woher diese kommt.

Wenden wir uns nun wieder der zuerst behandelten Frage nach der naturwissenschaftlichen Weltanschauung zu, dann ergibt sich jetzt folgendes:

Unsere Formwissenschaften sind das Mittel, und zwar das einzige, um eindeutige Aussagen aus der Natur entnehmen zu können. Fassen wir unsere vier Formwissenschaften unter dem Namen des mechanisch-kausalen Systems zusammen, dann ergibt sich, daß dieses System nicht in der Natur selbst liegt, sondern daß es ein Instrument von uns ist, das in 2500 Jahren für unsere menschlichen Zwecke der Naturbewältigung von uns entwickelt wurde, und das wohl das Wunderbarste ist, was menschlicher Geist jemals gewonnen hat. Es ist verständlich, daß die Menschen, als die Gesetze dieses Systems mühselig und in kleinen Schritten nach und nach entdeckt wurden, zunächst meinten, daß diese Gesetze in der Natur lägen, daß sie gewissermaßen das Geheimnis des Demiurgen seien, der geheime Plan, nach dem er die Welt geschaffen habe, wie es das alte Wort sagt: ho theis aei geômetrizei. Es ist also verständlich, daß sie dieses Instrument zunächst »ontologisierten«, genau so wie bei Plato etwa noch alle Allgemeinbegriffe ontologisiert wurden, indem er ihnen eine selbständige Existenz in der Außenwelt zuschrieb.

Als man nun mit der Entdeckung des Gesetzes der Erhaltung der Energie unbewußt sozusagen den Abschluß dieses Systems gefunden hatte, so daß das Instrument der Formwissenschaften im Prinzip nun völlig bestimmt war, da bildete sich durch diese Ontologisierung das sog. mechanische Weltbild, in dessen innere Natur wir nun einen klärenden Blick erhalten. In diesem Weltbild stellte man sich nämlich gemäß den gefundenen Gesetzen der Formwissenschaften die Welt als einen unendlichen geometrischen Raum vor, in welchem geometrisch geformte Korpuskeln nach den Gesetzen der Mechanik sich bewegen und gegenseitig beeinflussen. An manchen Stellen klumpten sich diese Korpuskeln zusammen zu Weltkörpern und auf diesen traten sie gelegentlich zu höchst komplizierten Gebilden zusammen, den sog. Lebewesen und den Menschen.

Sieht man genauer zu, so erkennt man, daß dieses Weltbild von ganz ungesehenen Dingen handelte. Niemals hatte jemand ein solches Atom gesehen, niemals jemand ein Lebewesen aus solchen aufgebaut. Es konnte also dieses mechanische Weltbild sozusagen nur die Gesetze der Formwissenschaften enthalten, aber noch keine Durchführung dieser Gesetze. Daraus erkennen wir aber, daß dieses sog. mechanische Weltbild gar nichts anderes ist, als das Instrument der Formwissenschaften selbst, nur sozusagen in eine anschauliche Form gebracht. Das mechanische Weltbild ist gar kein Bild der wirklichen Welt, sondern sozusagen nur das Schema der exakt-wissenschaftlichen Methode, wie sie in den Formwissenschaften vorliegt, in anschauliche Form gebracht. Es ist nichts weiter als das anschauliche methodische Programm der Forschung. Über die Welt selbst sagt dieses Programm nicht das geringste. Aber als Programm ist es unverbrüchlich, beweisbar und richtig.

Alle philosophischen Schwierigkeiten dieses Weltbildes kamen also daher, daß man unbewußt dieses Programm ontologisierte, d. h. es mit der wirklichen Welt verwechselte. Man erkennt auch, warum dieses Programm unverbrüchlich ist. Es ist ja einfach das einzige prinzipielle Mittel, welches erlaubt, die Natur in eindeutige Begriffe zu fassen und experimentell eindeutig anzugehen. Diese Eindeutigkeit des Experimentellen geht ja heute schon etwa bis 1/1000 mm und an anderen Stellen noch viel weiter. Was hier über das Programm gesagt wird, bezieht sich natürlich nur auf das Prinzipielle. Im praktischen Bereich, in dem Ringen um neue Erscheinungen an der Front der Forschung, kommen natürlich die mannigfachsten Aushilfen, Zwischenformen und Mischformen des Vorgehens vor, die oft schwer näher aufzugliedern sind, und die der methodischen Forschung noch ein großes Feld der Untersuchung bieten. So kann das Programm natürlich niemals einen Zwang bedeuten, an der Forschungsfront nur bestimmte Mittel anzuwenden, oder ein Verbot, gewisse Mittel nicht anzuwenden. Die aktive Naturforschung muß in ihren Mitteln ganz frei sein. Was wir fanden, stellt nur die streng beweisbaren festen Grundlinien jenes ungeheuren Prozesses dar, den die menschliche exakte Forschung heute bildet. Und gerade diese können ja auch allein für das Philosophische, oder wie man heute lieber sagt, das Weltanschauliche relevant sein.

So ergibt sich denn, daß, wo überhaupt strenge und völlig eindeutige Begriffe in der Naturwissenschaft auftreten sollen, dies nur auf dem Wege über die ideellen Formen des kausal-mechanischen Systems möglich ist. Das ist für die praktische Forschung vielleicht weniger wichtig, aber entscheidend für die weltanschaulichen Fragen, da diese nur dann eine befriedigende Antwort erhalten, wenn diese Antwort völlig gesichert und eindeutig ist. Da diese Formen überhaupt keine Abhängigkeit von irgendwelchen Besonderheiten der Objekte, zu deren Behandlung sie angewendet werden sollen, aufweisen, so zeigt sich, daß es keinen Gegenstand in der Natur gibt, der nicht mit diesen Mitteln angegriffen werden könnte und müßte. Es gibt also vom Methodischen her überhaupt keine Ausnahmen für diese Methode (außer ihre eigene Absis, den aktiven Willen, was aber hier nicht weiter behandelt werden soll). Aber über den Gegenstand selbst sagt das Programm gar nicht aus. Es ist also dem Prinzip nach völlig unverbrüchlich und ohne prinzipielle Ausnahme. Aber trotz dieser methodischen Unverbrüchlichkeit werden wir gleich nachher große Gebiete feststellen können, wo es nicht hinreicht. Dies allerdings in völlig anderer Weise, als man bisher gemeint hat.

Von welcher Art aber ist nun dieses Wirkliche selbst, zu dessen eindeutiger Behandlung dieses Programm aufgestellt wurde?

Wir sahen vorhin, daß das Bestreben, sich darüber klar zu werden, was denn nun an der Welt wirklich echt, wirklich gegeben sei, wieviel an ihr unabhängig von allen menschlichen Meinungen und Phantasievorstellungen bestehe, dazu gelangte, die eigentliche Welt als einen film von Sinneswahrnehmungen zu betrachten. Man war sich klar, daß dieses Ergebnis eine Art quälender Unsinn sei, daß es zum Solipsimus führe und eigentlich alles sinnlos mache. Aber es war kein Weg sichtbar, um auf legalem Wege sich dem zu entziehen. Der Weg, durch den man den quälenden Konsequenzen auszuweichen versuchte, nämlich die Annahme einer sog. realen Welt von »Dingen an sich« hinter dem Film, war illegal, d. h. es war ein unbewiesener, rein hypothetischer Sprung über den Abgrund. so ruhte auch die Philosophie hier auf völliger Unsicherheit und Unbewiesenheit, und auch sie zeigte sozusagen gleich am Beginn einen wissenschaftlichen Sündenfall, eine Stelle, wo mangelnde Bewiesenheit durch Phantasie, also durch Märchenbildung ersetzt werden mußte - was nicht verfehlen konnte, sich weiterhin schädlich auf die strenge und nüchterne Sicherung des Ganzen auszuwirken.

Bei der Lehre, daß uns die Welt nur durch oder als Sinneswahrnehmung gegeben sei, handelt es sich um eine unbewußte Vermischung zweier Definitionen. Denn dieser Satz ist sowohl richtig als falsch, und er tritt an zwei ganz verschiedenen Orten auf. Er ist richtig in der Physiologie. Wo er falsch ist, werden wir gleich sehen. Die Physiologie gehört den exakten Wissenschaften an, insofern sie eine Anwendung dieser auf den Menschen ist. Auf Grund der Gesetze der Mechanik, der Physik und Chemie schafft sie sich das Denkbild und Schema eines allgemeinen Menschen (ähnlich wie der Glasmensch in Dresden), an dem sie alle Vorgänge am Menschen, deren mechanisch-kausale Erklärung ihr gelungen ist, anbringt. Bei diesem allgemeinen Menschen ist es nun so, daß von außen her physikalisch-chemische Wirkungen auf ihn treffen, die von bestimmten Organen und Nerven aufgenommen und registriert werden und deren kausale Wirkung sich nun durch das Nervensystem weiter fortsetzt. So erkennen wir, daß für dieses Menschenschema seine Außenwelt lediglich als eine Gruppe von Sinneswahrnehmungen auftritt. Dieses Menschenschema ist aber eine kausale Konstruktion unseres wissenschaftlichen Denkens und darf mit dem wirklichen Menschen nicht verwechselt werden. Haben wir das einmal erfaßt, dann verstehen wir sogleich, daß ein ganz analoges Problem noch einmal an einer ganz anderen Stelle auftritt. Man kann nämlich fragen: Welches ist denn diejenige Wirklichkeit, die für den wirklichen Menschen da und gegeben ist, ohne daß es irgendwelche geistige kausale Konstruktionen benutzt; was ist diejenige Wirklichkeit, die ganz direkt da ist, ohne daß ich mir darüber erst Gedanken mache? Das wäre dann erst die wirkliche Wirklichkeit. Das ist offenbar eine ganz andere Fragestellung als die vorige. Hier geht es nicht um die Konstruktion von Kausalketten, die erklären sollen, welche Wirkungen die Außenwelt auf den physiologischen Menschen ausübt, hier geht es einfach darum, was ohne alle menschlichen Gedanken, ohne von diesen berührt, zergliedert und erklärt zu sein, da ist. Es geht um das, was unberührt von allen Gedanken da ist. Wir wollen es daher das Unberührte nennen.[3])

Es ist klar, daß das Unberührte keine Sinneswahrnehmungen sind; denn die Begriffe Sinnesorgan, Wahrnehmung und das dazu gehörige Objekt bilden schon eine ganze kausale Konstruktion. Auch eine gedankliche Analyse gehört ja schon zur Konstruktion, ist Zusatz von Gedanken zum Gegebenen. Im Unberührten sind die Dinge einfach da und es ist noch kein kausaler Prozeß konstruiert, der von ihnen zu mir führt, denn solche Konstruktion ist schon geistige Zutat zum Unberührten. Nähere Betrachtung zeigt, daß der sensualistische Aspekt und das Unberührte auch ganz verschiedene Eigenschaften haben. Denken wir uns, wir sehen eine Bewegung, also z.B. einen fliegenden Vogel, ein fahrendes Auto. Im Unberührten ist diese Bewegung einfach da. Die Konstruktion aber sagt uns, daß von dieser Bewegung jeweils nur ein Zeitdifferential wirklich ist, alles übrige sind Nachbilder auf der Netzhaut und Erinnerungsbilder. Trotzdem also die theoretisch-kausale Konstruktion es sozusagen als unmöglich beweist, erleben wir im Unberührten die Bewegung ganz direkt. Ein anderes Beispiel. Beim einäugigen Sehen ist im Unberührten die Welt einfach plastisch da. Die Konstruktion sagt uns dagegen, daß wir einäugig gar nicht plastisch sehen können, daß der plastische Eindruck nur auf sog. unbewußten Schlüsseln beruht (wie sie Helmholtz nennt); die aus Schattenwirkungen nach früheren Erfahrungen sich das Plastische konstruieren. Wir sehen, daß natürlich die Konstruktion so arbeiten muß, daß das Unberührte wieder dabei herauskommt und erklärt wird. Das Wirkliche ist aber nicht die Konstruktion, sondern das Unberührte.

Ein weiteres Beispiel. Im Unberührten haben wir das Innenleben oder die Seele eines uns nahestehenden Menschen in weitem Ausmaß ganz unmittelbar. Die Konstruktion sagt uns, daß das ganz unmöglich ist, daß ich von dem anderen Menschen nur äußere Wahrnehmungen habe, nichts weiter als seine Gesichtszüge, seine Gesten, seine Haltung, seine Worte etc. erlebe und daß alles übrige nur auf sog. Einfühlung beruht, wobei Erinnerungsbilder an eigene seelische Erlebnisse in den anderen hineinprojiziert werden. So hat man im Unberührten das Fremdseelische ganz direkt und ohne alle Metaphysik. In der Konstruktion dagegen muß es als unbewußte Konstruktion konstruiert werden.

So erkennen wir, daß die wirkliche gegebene Welt etwas unendlich viel Reicheres und eben Wirklicheres ist, als das Weltbild des Fleckenfilms und auch als das konstruktive Schema des sog. kausal-mechanischen Weltbildes. Es leuchtet ein, welche Verarmung man herbeiführt, wenn man solche Weltbilder mit dem Unberührten verwechselt. In ihn ist die Welt, sind die anderen Menschen und ihr Innenleben wirklich da, und es bedarf keiner metaphysischen Hypothesen darüber, die uns doch niemals Sicherheit bringen könnten. So zeigt sich, daß die Vorstellung, daß jener Fleckenfilm unsere ganze Welt darstellen sollte, glücklicherweise nur ein Irrtum, nämlich eine Verwechslung war. Hat man das Unberührte als die wirklich gegebene Welt erkannt, dann fällt dieser Spuk weg, man braucht auch keine sog. »reale Welt« mehr hinter sie zu konstruieren, denn das Unberührte ist dann selbst die einzige Welt, die da ist.

Diese einzige wirkliche Welt, die nun keine konstruierte Welt mehr hinter sich braucht, ist auch diejenige, auf die der Mensch jene grandiose Methodik anwendet, die sich in den vier Formwissenschaften kristallisiert, um diese Welt seiner Aufgabe gemäß geistig und manuell sich dienstbar zu machen. Das Produkt dieser Methodik sind dann die exakten Wissenschaften und die Technik mit ihren unerhörten modernen Erfolgen.

Nun aber wollen wir in Anknüpfung an das, was wir eingangs über die Weltanschauungen sagten, die Frage stellen: Wie steht nun der Mensch in dieser Welt, und zwar jetzt nicht als Wissenschaftler, sondern eben als Mensch?

Um der Antwort hierauf näherzukommen, fragen wir uns zunächst, wie weit denn diese Methodik überhaupt reiche, von der wir gesprochen haben. Gibt es Gebiete, wo sie, wo also die Rationalisierung nicht hinreicht? Gibt es also ein streng nachweisbares Irrationales? Die genau durchgeführte Methodik beweist, daß in der Methode selbst niemals eine Lücke auftreten kann. Konkret gesprochen heißt das, daß die kausal-mechanistische Erklärungsweise stets das letzte Ziel gegenüber allem ist, was überhaupt als Objekt auftreten kann. Daß dieses prinzipielle Resultat die Anwendung von allerhand Zwischenmethoden an der Forschungsfront keineswegs ausschließt, wurde schon genügend betont. Wir sahen weiter, daß die kausal-mechanistische Erklärungsweise stets das letzte Ziel gegenüber allem ist, was überhaupt als Objekt auftreten kann. Daß dieses prinzipielle Resultat die Anwendung von allerhand Zwischenmethoden an der Forschungsfront keineswegs ausschließt, wurde schon genügend betont. Wir sahen weiter, daß die kausalmechanistische Erklärung nun etwas Methodisches besagt, niemals etwas Ontologisches aussagen oder bedeuten kann. Sie stellt stets nur ein relativ dünnes und weitmaschiges, wenn auch sich stets verengendes Netz dar, das wir über die unausschöpfbare und immer neu quellende wirkliche Welt, das Unberührte, breiten. Sie dringt Schritt für Schritt stets weiter vor und es gibt keine Stelle, die nicht ihr Objekt werden kann, die ihr ein prinzipielles und beweisbares Hindernis in ihrem Fortschreiten bieten könnte und dennoch ist sie niemals die Welt selbst. So etwa legen wir das Netz der Meridiane und Breitengrade über die Erde, das theoretisch jeden Punkt deckt und dennoch kann uns dieses Netz niemals die Erde selbst ersetzen.

Die Methodik beweist also, daß niemals ein Hindernis in dem Fortschreiten der mechanistisch-kausalen Erklärung bewiesen werden kann. Das besagt aber nicht - wie das oft gemeint wurde - daß nun auch kein Hindernis in der Vollendung dieses Erklärungsprozesses bestehe. Das aber führt uns zur Frage des Irrationalen zurück.

An sich ist ja kein Gegenstand des Unberührten durch schrittweise rationale Erklärungsprozesse jemals voll ausschöpfbar. Zur vollen Ausschöpfung würde es unendlich vieler Erklärungsschritte bedürfen, die niemals wirklich durchlaufen werden können. Das war schon Plato geläufig. Insofern ist alles Wirkliche sozusagen »unendlich irrational«, wie wir es etwa nennen können. Von wesentlich höherem Interesse ist jedoch die Frage, ob es trotz der Unverbrüchlichkeit der kausal-mechanistischen Erklärungsmethode Stellen gibt, die nicht erst gegenüber unendlich vielen Schritten irrational sind, sondern die auch endlich vielen Erklärungsschritten gegenüber als irrational nachgewiesen werden können. Solche Stellen wollen wir als »endlich irrational« bezeichnen.

Man kann durch eine kleine logische Bemerkung schon voraussehen, von welcher Art unser Resultat in dieser Frage sein wird. Alle kausal-mechanistische methodische Erklärung ist doch rational. Sie ist sozusagen das Kernstück alles Rationalen überhaupt. Im weiteren Sinne aber gehört, wie wir schon betonten, alles Ideenhafte zum Rationalen. Das ist an sich schon klar, denn Idee kann nur in der Ratio bestehen. Da aber alle Allgemeinbegriffe Ideen sind, so sind auch alle Allgemeinbegriffe rational. Daraus aber folgt logisch, daß das Irrationale niemals im Bereiche der Allgemeinbegriffe, also niemals im Bereiche der Universalia auftreten kann. Dies anzunehmen, würde eine contradictio in adjecto involvieren, denn es würde ein »rationales Irrationales« bedeuten. Daraus aber folgt der Satz, daß Irrationales nur im Bereich des Singularen auftreten kann. Dies ist nur sozusagen eine kurze logische Faustregel für etwas, das aus der strengen Methodik sich sowieso ergibt.

Dies wird Ihnen sogleich noch klarer werden, wenn wir es am Beispiel betrachten. Wir sprachen oben von dem Denkschema des physiologischen Menschen. Nun ist das Nervensystem und besonders das Zentralnervensystem (ZNS) heute noch sozusagen das unbekannteste Terrain, das es in der Naturwissenschaft gibt. Wir wissen noch nicht einmal, was bei dem einfachsten Leitungsvorgang in einer peripheren Nervenfaser vor sich geht. Was bei dem einfachsten Gedächtnisvorgang oder Engramm geschieht, dafür gibt es noch nicht einmal plausible Hypothesen, die auch nur das Wesentliche des Vorganges decken würden. Von da bis zu den höheren Funktionen des ZNS ist aber wieder ein unvorstellbarer Sprung. Dennoch ist nicht ausgeschlossen, daß im Verlauf langer Zeiten fleißiger Forschung auch hier gewisse Fortschritte gemacht werden. Ob das in hundert, tausend oder zehntausend Jahren sein wird, darüber ist nichts auszumachen. M. Hartmann hat darauf hingewiesen, daß schon die volle Aufgliederung des Chromosomensatzes der Drosophila mit seinen 5-10 000 Genen praktisch undurchführbar sein wird. Dennoch denken wir uns einmal in eine Zeit, wo einiges in bezug auf das ZNS gelungen sei. Man kenne etwa genau die chemischen Substanzen, die bei der Engrammbildung mitwirken und generell die molekularen Vorgänge, die sich dabei abspielen. Dann ist die Engrammbildung als ein genereller Vorgang der kausal-mechanistischen Erklärung zugeführt und wir werden unser Denkschema des allgemeinen physiologischen Menschen damit ausstatten können. Man könnte sich sogar vorstellen, daß die prinzipiellen Elementarvorgänge, welche in millionenfacher Schaltung und Anordnung das ZNS regieren, auf diese Weise generell erklärt seien - obwohl wir noch nicht einmal ahnen, in welcher Richtung diese Erklärung liegen könnte.

Dann wären wir also tatsächlich soweit, unser physiologisches Menschenschema mit einem ziemlich vollständig funktionierenden ZNS ausstatten zu können und über jeden Vorgang darin auf chemisch-physikalischem Wege Rechenschaft zu geben. Es wäre also für alle geläufigen Hirnvorgänge das allgemeine kausal-mechanistische Schema gefunden. Alles an dem Menschenschema ist ja universal und damit rational.

Und nun wenden wir uns zum Singularen. Ich denke mir zu diesem Zwecke etwa, ich würde in dieser Zeit leben und frage mich: Kann auf Grund dieses Schemas nun irgendein beliebig kleiner Gedanke bei mir lückenlos erklärt werden? Es ist leicht zu zeigen, daß das unmöglich ist. Um das nämlich zu können, müßte die genaue momentane Molekurlarstruktur meines ZNS bis in die atomaren Einzelheiten, auf die es hier besonders ankommt, bekannt sein und aus den Millionen von Erlebnissen meines bisherigen Lebens kausal erklärt sein. Es würde sich dabei um Trillionen von Molekülen handeln und um noch mehr kausale Beziehungen unter ihnen. Der Gegenstand der Erklärung würde sich außerdem nur in einem ganz kurzen Zeitmoment und zwar unwiederholbar abspielen. sofort darauf ist nichts weiter darüber auszuführen, um Ihnen bewiesen zu haben, daß es für alle Zeiten absolut unmöglich sein wird, diesen singularen Vorgang einer lückenlosen kausal-mechanistischen Erklärung zuzuführen. Das scheint zwar bloß eine sog. technische Unmöglichkeit, aber sie ist eine absolute, unbehebbare und definitive. Eine Unmöglichkeit von der Methode selbst her ist ja, wie wir sahen, ausgeschlossen.

Hier im Singularen treffen wir also tatsächlich auf das Irrationale und zwar in einem überaus großen Umfang. Alles, d. h. alle Kausalketten, die durch das Gehirn eines konkreten Menschen hindurchgehen, sind absolut und für alle Zeiten kausal nicht völlig aufgliederbar, d. h. es kann niemals eine Sicherheit darüber bestehen, welche Umstände nun tatsächlich bei ihnen mitgewirkt haben. Alle diese Kausalketten verlaufen also für die genannte Strecke im Irrationalen. Daß wir selbst meinen, wir wüßten, was in unserem ZNS vorgeht, ist für die kausale Konstruktion nur scheinbar. Es sind nur einige wenige ganz grobe Züge eines unübersehbar komplizierten Netzes, die uns bewußt sind. Was da noch dahintersteckt oder darum herum, davon hat uns die Psychoanalyse, die ja zuletzt nichts anderes ist als die Anwendung des Kausalprinzips auf die ZNS-Vorgänge, ein wenig mehr ahnen lassen, aber auch das sind alles nur Hautritzer gegenüber dem Ganzen.

Nun spielt sich der Hauptteil unseres Denkens und Handelns im Leben in Zusammenhängen und zwischen Umständen ab, die durch menschliche Gehirne hindurchgehen. Also ist unser ganzes menschliches Tun und Treiben, d. h. unsere Beziehungen zu uns selbst, zu anderen und zur Welt absolut und für alle Zeiten irrational. Man kann den Umfang dieses irrationalen Gebietes noch etwas erweitern. Hier mag es uns genügen, seine Existenz bewiesen und den wichtigsten Teil davon direkt festgestellt zu haben.

Hier ist nun vor einem Mißverständnis zu warnen. Man könnte denken, daß das nachgewiesene Irrationale nur eine Art technischer Unmöglichkeit bedeute, also gar kein echtes ontologisches Irrationales sei. Eine kurze Besinnung zeigt, daß das unrichtig ist. Die kausale Erklärung der allgemeinen Gehirnvorgänge, die wir als gelungen angenommen haben, besteht aus allgemeinen Denkschematen, die wir an dem Schema des physiologischen Menschen anbringen können. Insofern also ein Gehirnvorgang unter einen allgemeinen Begriff einer bestimmten Art von Vorgang eingereiht werden kann, ist es nach unserer Annahme kausal erklärbar. Insofern er aber von vorhandenen bestimmten Konstellationen im Gehirn abhängt, ist eine völlige kausale Erklärung unmöglich, da diese Konstellationen niemals völlig bekannt sein können - ebensowenig wie die ungezählten feinen und feinsten Einwirkungen von außen, die diese Konstellationen mit erzeugt haben. Diese Konstellationen sind dabei nur gedachte, hypothetische Schemavorstellungen. Ihre Beschaffenheit in einem konkreten Einzelfall muß, wie gezeigt, dauernd unbekannt bleiben. Damit aber bilden sie ein echt irrationels Gebiet, in dem niemals echte Verifikationen möglich sind, wo wir vielmehr nur einige wenige vorgestellte, d. h. hypothetische Kausalketten vermutungsweise aufstellen können. Hieraus kann jedoch niemals der Schluß gezogen werden, daß hier Durchbrechungen der Kausalität angesetzt werden könnten, was einen Verstoß gegen die Methodik bedeuten würde. Die einzelnen Glieder der kausalen Verknüpfung sind dabei im Detail niemals voll feststellbar, weshalb hier Unerwartetes und Unerklärbares stets auftreten kann. Auf die Behauptungen einiger theoretischer Physiker, daß eine Akausalität im Atomaren nachgewiesen sei, kann nur gesagt werden, daß hier, wie so oft, eine Verwechslung zwischen Denkform und Wirklichkeit vorliegt. Die Denkformen, die diese Physiker an diesen Stellen anwenden, sind in der Tat akausal, und insoferne haben sie recht. Ein wirklicher Beweis, daß andere Denkformen ausgeschlossen seien und daß sich ihre Aussagen auf die Wirklichkeit bezögen, liegt nirgends vor. Die Physik besitzt keinerlei Mittel, um einen solchen Beweise in bindender Form zu führen. Es erübrigt sich daher in unserem Zusammenhang, auf die Betrachtungen dieser Physiker näher einzugehen.

Und nun wollen wir noch einen letzten Schritt tun.

Wenn wir die prinzipielle Stellung des Menschen, wobei jeder nun an sich selbst denken muß, in der Welt einmal ganz schlicht und ohne alle Meinungen, Hypothesen, Voreingenommenheiten und Gelerntheiten betrachten und uns ihn ansehen, wie er da, ohne gefragt worden zu sein, einfach da ist und drinsteckt im Dasein (die Existentialisten sprechen gerne von Hineingeworfensein) und wie er sich damit auseinandersetzen und abfinden soll, und wir uns fragen, was denn wohl hier das Prinzipiellste, das Urmäßigste sei, was man konstatieren und aussagen könne, dann geraten wir ganz zwangsläufig auf Folgendes: Die Ursituation besteht im Vorhandensein einer Scheidung zwischen dem, was mein aktiver Wille und dem, was nicht mein Wille ist. Diese Scheidung ist nämlich völlig unmittelbar und zweifelsfrei da und gegeben. Nicht etwa die Scheidung zwischen Innen- und Außenwelt ist das grundlegendste und urtümlichste, denn diese wird erst durch mühsame Erfahrungen und Konstruktionen nach und nach aufgebaut. Die erstere Scheidung dagegen ist immer und unmittelbar da. In ihr stehen sich der Kern des Ichs und das Andere gegenüber. Dieses Andere wollen wir unter dem Begriff des »Gegenstehenden« zusammenfassen. Die Ursituation des Menschen ist also die, daß mein wille und der ihm unmittelbar untertane Bereich auf einen Seite der »Gesamtheit des Gegenstehenden« auf der anderen Seite gegenübersteht.

Dabei ist wohl zu bemerken, daß das Gegenstehende nicht etwa die Außenwelt allein ist. Nein, alles, was nicht direkt mein Wille ist, gehört dazu: also mein Körper in seiner Sobeschaffenheit, die ich nicht unmittelbar willensmäßig ändern kann, aber auch alles in meinen Gedanken und Gefühlen, das von selbst kommt und da ist, was die Psychologen etwa als freisteigend bezeichnen. Ja, ich kann nicht den kleinsten Gedanken denken, ohne daß das Gegenstehende sich einmischt. Daß mir der Gedanke überhaupt kommt, gehört dazu, was für Assoziationen er auslöst, daß mir die Worte dazu überhaupt einfallen, alles dies gehört zum Gegenstehenden.

Wenn man sonst von der Stellung des Menschen in der Welt spricht, dann meint man unter »Mensch« diesen mit seinem Körper und die Welt ist dann seine »Außenwelt«. Aber es ist leicht zu zeigen, daß die Trennung zwischen Innen- und Außenwelt keine primäre, unmittelbar gegebene Scheidung ist, sondern das Produkt einer schrittweisen, geistigen Konstruktion. Zwei Beispiele aus der Geschichte der Philosophie seien angeführt. Plato verlegt die Ideen nach außen (in den überhimmlischen Ort), Aristoteles in die äußeren Dinge, wir verlegen sie in unseren Geist. Ferner: Kant verlegt Raum und Zeit in unseren Geist, während der Empirismus sie der Außenwelt zuschreibt. Schon diese Beispiele würden genügen, um zu beweisen, daß die Trennung von Innen- und Außenwelt nichts unmittelbar Gegebenes sein kann. Die Forschung ist dauernd damit beschäftigt, an immer neuen Stellen durch exakte Experimente (in die stets Elemente wissenschaftlicher Konstruktion eingehen) festzustellen, was an unseren Erlebnissen der äußeren Wirklichkeit, was geistiger Zutat angehört. Im Unberührten ist diese Trennung nicht streng vorhanden, wie ja überhaupt das Unberührte jeder strengen Begriffsbildung vorausgeht und daher nirgends strenge begriffliche Trennungen aufzuweisen vermag.

Das gesamte Dasein des Menschen besteht nun in der andauernden Auseinandersetzung mit dem Gegenstehenden und wird bestimmt durch sein Verhältnis zu ihm. Diese Auseinandersetzung spielt sich aber so gut wie völlig in dem oben nachgewiesenen irrationalen Bereiche ab, dessen Eigenheit es ist, daß hier die Kausalfäden niemals völlig entwirrt werden können, ja, daß ein unendlich feines supponiertes Kausalgeflecht nur in seinen allergröbsten Zügen erkennbar wird.

Die Auseinandersetzung des Ich-Kernes mit dem Gegenstehenden ist das Wesentliche jedes Menschenlebens. Gehen wir dieser Auseinandersetzung etwas näher nach, dann gelangen wir bald zu seltsamen Ergebnissen, die uns irgendwie bekannt vorkommen, von einer ganz anderen Seite her als geläufig erscheinen, wie wir gleich sehen werden.

Nehmen wir einmal an, mein Wille, mein Kern-Ich stelle sich feindselig, unwillig und trotzend zur Gesamtheit des Gegenstehenden ein, soweit das überhaupt möglich ist. Dann kommt es überhaupt nicht mehr zu einem vernünftigen Handeln; denn alles Handeln von mir muß sich dann am Gegenstehenden brechen, dem es entgegengerichtet ist. Ein solcher Mensch würde keine ruhige Minute haben, kein sinnhaftes Handeln vollziehen können, er würde in einer dauernden Hölle leben. Daraus folgt, daß der Ich-Kern des Menschen, wofür wir kurz der Mensch sagen, mit dem Gegenstehenden irgendwie zum Frieden kommen muß, daß er dauernd den Ausgleich mit ihm suchen muß. Wie wird er nun diesen Frieden suchen? Er wird alle seine eigenen Willensimpulse und Zielrichtungen zunächst einmal zum Schweigen bringen und seinen Willen nur darauf richten, der Gesamtheit des Gegenstehenden gegenüberzutreten und sich auf den Ausgleich mit ihr einzustellen. Von da aus wird er seine Lebenslinie neu zu finden suchen, um diese dann unter immerwährendem Ausgleich mit dem Gegenstehenden willensmäßig zu verfolgen.

Hier befinden wir uns auf dem vorhin nachgewiesenen Gebiete des Irrationalen, und dessen Umstände machen sich nun entscheidend bemerkbar. Der Bereich nämlich, wo mein eigenes Kern-Ich sich mit dem Gegenstehenden berührt, ist ein irrationaler Bereich, wo in der Grenzzone beide Gebiete in einer untrennbaren Weise ineinander verflochten sind, wo, wenn wir es kausal ausdrücken wollen, ungezählte Kausalfäden dauernd hin- und herlaufen und unaufgliederbare Wirkungen vom einen zum andern und vom andern zum einen ständig erfolgen. Beim Versuch der kausalen Deutung werden wir sagen müssen, daß meine Willenseinstellungen meist so gut wie unbewußt ungezählte feine Wirkungen in meinem Wesen auslösen, die in ihren feinen Wirkungen oft unerwartet weit nach außen sich fortsetzen. Umgekehrt werden oft fast unmerkliche Nuance des außen, ohne die Bewußtseinsschwelle zu übertreten, von mir aufgenommen werden und in mich hineinwirken. Aber dies sind alles nur ganz grobe tastende Formulierungen für ein unübersehbar komplexes Geschehen, von dem wir ja nachgewiesen haben, daß es sich einer völligen kausalen Aufgliederung nicht nur temporär, sondern überhaupt entzieht. Denken wir uns einen Vorgang, wo ich etwa in Not bin und Hilfe brauche. Gebe ich dann im rechten Ausgleich mit dem Gegenstehenden (dieser ausgleich ist nötig, um in der ruhe desselben die feineren fäden, die zwischen den beiden Gebieten spielen, zur Auswirkung kommen zu lassen. Diese sind gerade oft besonders wichtig und werden bei mangelndem Ausgleich allzu leicht übertönt.) diesem Wunsche Raum, dann wirkt dieser in mein ganzes Wesen hinein und durch es hindurch. alle meine inneren Fähigkeiten und meine äußeren Sinne sind geschärft, um jedes Anzeichen eines Weges zur möglichen Rettung aufzunehmen. Mein ganzes Wesen, mein Gesicht, meine Gesten, meine Haltung, sind dann geeignet, Hilfe herbeizuziehen, auch in anderen den Willen zu erwecken, mir zu helfen. In solchen tastenden Worten muß die rational-kausale Erklärung versuchen, sich von dem Vorgang, wenigstens in den gröbsten Linien Rechenschaft zu geben. Wieviel von mir dabei getan wird, wieviel das Gegenstehende dazu leistet, wie beide dabei aufeinanderwirken, das kann niemals bis ins Letzte aufgegliedert werden. Und irgendwie kommt Hilfe oft auf ganz unvorhergesehene Weise, auch wenn sie schließlich nur in einer neuen inneren Kraft beruhen sollte, mit den Umständen fertig zu werden. Kausal müssen wir sagen, daß alle unsere Handlungen, auch die kleinsten und unscheinbarsten, auf eine niemals völlig aufgliederbare Weise weiterwirken, ihre Kreise ziehen, zu uns zurückkehren. Jeder Mensch, der auf diese Dinge etwas achtet, hat die Erfahrung gemacht, daß das Gegenstehende uns immer wieder Möglichkeiten bietet, unsere Lebenslinie im friedvollen und vertrauenden Ausgleich mit dem Gegenstehenden zu finden versuche. Von der kausalen Deutung her können wir ein wenig rational zu verstehen versuchen, daß wir ja nicht in eine völlig beliebige Umgebung hineingeworfen sind. Wir leben ja in einer Welt, die seit ungezählten Jahrmillionen alle unsere Vorfahren von der Tierheit her irgendwie getragen hatte, die ihnen erlaubt hat, ihren Weg zu gehen, die sie ernährt und erhalten hat. Unser ganzer Körper ist ja geformt von den Umständen dieser Umgebung und geeignet, sich mit ihren Umständen abzufinden. Wäre das nicht, so wären wir selbst ja nicht da. Un wir leben zwischen Menschen, die auf mich ebenso reagieren wie ich auf sie. So können wir schon deshalb erwarten, daß schließlich auch für mich und für uns sich Möglichkeiten finden werden, unsere Lebenslinie fortzusetzen. Finde ich Schwierigkeiten und Hinderungen, meine Lebenslinie zu verfolgen, ohne daß diese dadurch abgeschnitten wird, so muß ich schließen, daß ich vielleicht irgend etwas falsch gemacht habe, ich werde nach dem Fehler suchen und danach trachten, im rechten Ausgleich mit dem Gegenstehenden solche Erfahrungen mir zum Nutzen diesen zu lassen. Ich werde mich bemühen, den Ausgleich noch besser zu suchen, noch inniger um ihn zu ringen. Dann aber wird das Gegenstehende, so können wir uns etwa in kurzer Weise ausdrücken, im allgemeinen mich nicht vernichten, wie es ja auch meine Vorfahren hat leben lassen, ohne die ich nicht vorhanden wäre: es wird mir neue Möglichkeiten bieten, und ich werde die Empfindung haben, zu dem bilde greifen zu können, daß der gemachte Fehler mir vergeben sein und daß mir das Gegenstehende eine neue Linie zeige. Gelingt es andererseits meine Lebenslinie zu fördern, so werde ich mir klar machen, daß ich niemals ganz sicher sein kann über die Fortsetzung dieser Gunst, darum werde ich versuchen, den Erfolg nicht mir selbst allzusehr zuzuschreiben, da ja tatsächlich eine genaue Aufgliederung für dessen kausale Begründung nicht möglich ist. Gefühle des Stolzes und Triumphes vermitteln fast stets die Selbsttäuschung, daß man den Ausgleich weiter nicht nötig habe und bewirken so, daß die feinen, oft warnenden Fäden übersehen werden, die hinüber- und herüberspielen, was nach und nach fast unfehlbar zu groben Fehlgriffen führt. Es ist daher für den Verfolg der Lebenslinie besser, ein Gefühl zu pflegen, das als eine Empfindung dankbaren Vertrauens und dankbaren Bemühens um einen um so tieferen Ausgleich bezeichnet werden kann. Diese Bemühungen werden sich wie von selbst gelegentlich in der inneren Auseinandersetzung zu Worten formen. Es wird leicht zu fast hymnisch gehobenen Formulierungen führen, in denen das Ich sich der ungezählten Fälle erinnert, wo ihm früher Hilfe kam und es wird von da Vertrauen und Ansporn zu neuem Ausgleich zu finden trachten. Dabei kann kausal gesehen dieses innere Sprechen die Situation selbst wiederum beeinflussen. Es kann helfen, mich selbst geistig zu sammeln, mich ruhiger und geeigneter zu machen, um eine Lage zu behandeln, es kann bewirken helfen, daß mir aus dem Gegenstehenden helfende Elemente aufleuchten und ihnen den Weg zu mir ebnen.

Wenn wir diese kurzen und nur skizzierenden Ausführungen über diese Beziehungen des Kern-Ich zum Gegenstehenden überdenken, die ja bei uns lediglich aus völlig nüchternen Tatsachen sich ergaben, dann können wir nicht umhin zu bemerken, daß diese Gesamtheit des Gegenstehenden sich hier in einer Weise verhält, wie man es etwa von einer übermächtigen Persönlichkeit erwarten würde, die ich nicht direkt zu sehen vermag, die auch niemals in direkten Worten zu mir spricht, die aber dennoch mein ganzes Schicksal in ihrer Hand hält, von der ich nichts weiß, als das, was ich aus ihren Reaktionen gegen meine Handlungen glaube entnehmen zu können, zu der ich selbst jedoch und zwar in der einigermaßen begründeten Hoffung, durch dieses Sprechen sie gelegentlich einigermaßen zu beeinflußen. Eine Persönlichkeit also, die sich überaus innig und ganz persönlich mit mir beschäftigt, mich im stillen leitet, mich vielleicht belohnt, wenn ich es recht mache, mich etwa bestraft, wenn ich es falsch mache, so daß ich wieder auf richtigere Wege finden kann. von einer solchen Person, die also bei all ihrer Macht und Undurchschaubarkeit im Letzten sich irgendwie dauerns bis ins kleinste um mich kümmert, und mich in der genannten Weise schließlich führt, kann man wohl sagen, daß sie - wenn auch oft in einer für mich undurchschaubaren Weise - gütig; barmherzig und gerecht ist und - so würde man es bei einem solchen Menschen nennen - mich in dieser etwas väterlichen Weise liebt. Das sind aber nun genau die Eigenschaften, welche die religiösen Genien Gott zugeschrieben haben, seitdem es, ausgehend von den großen jüdischen Propheten, einen einzigen unsichtbaren und doch irgendwie unmittelbar erlebbaren gott für die Menschheit gegeben hat. Und weiter das, was wir den inneren Ausgleich mit dem Gegenstehenden nannten, erfüllt wohl genau die psychologischen Funktionen, welche jene als Andacht, als Gebet, gelegentlich als mystische Versenkung beschrieben haben.

Als die großen jüdischen Propheten viel unnötiges und unwesentliches Beiwerk von der Gottesvorstellung nach und nach immer mehr abstreiften, da bleiben ihnen schließlich auch fast nur jene Eigenschaften des Göttlichen übrig, von denen wir gerade sprachen. Und diese haben seither auch bei allen großen Religiösen diesen Begriff beherrscht. So zeigt sich, daß völlig nüchterne und sich nur streng beweisbarer Gedankengänge bedienende Überlegung schließlich dazu führt zu erkennen, daß diese Männer nicht reinen Phantasien nachjagten, oder sich in reinen Selbsttäuschungen wiegten, sondern daß es schließlich letzten Endes echte Realitäten waren, die sie im Auge hatten und erlebten, deren Deutungen sie aber methodisch natürlich noch nicht irgendwie zu fundieren vermochten.

Denken wir nochmals an die oben behandelte mächtige Persönlichkeit, die ich nicht sehe, die sich niemals in Worten äußert, die mein Schicksal bis ins kleinste beeinflußt und in der Hand hat, bei der ich aber nur aus ihren Reaktionen auf meine Handlungen Schlüsse auf ihre eventuellen Absichten ziehen kann, deren Ratschlüsse ich also niemals unmittelbar durchschauen kann und bemerken wir, daß ich diese dann dennoch als eine Person auffassen würde, dann verstehen wir, daß es auch diesen Religiösen naheliegen mußte, Gott als Person aufzufassen. Nun ist die Wirkung, die das Gegenstehende auf uns ausübt, von der jener hypothetischen Person, von der wir sprachen, in nichts zu unterscheiden. Es macht also keinerlei realen Unterschied, ob wir beim Gegenstehenden den Begriff Person verwenden oder nicht. Die Frage, ob die Gesamtheit des Gegenstehenden eine Person sei oder nicht, ist daher eine reine Benennungsangelegenheit. Hier kann es also jeder halten wie er will.

Eine genau analoge Situation finden wir hinsichtlich einer anderen wichtigen Frage. Fragen wir nämlich, ob dieser Gott einen genau bewußten Plan in die Zukunft hinein besitze, nach dem er die Welt und auch mich leitet, dann müssen wir sagen: Wenn ich sowieso prinzipiell niemals Gottes Ratschlüsse völlig zu durchschauen vermag, dann bleibt es im realen Effekt genau das Gleiche, ob ich ihm einen solchen Plan zuschreibe oder nicht. Genau so steht es aber mit der Gesamtheit des Gegenstehenden. Der einzige Umstand, der einen Ausschlag zugunsten einer Seite in diesen Fragen geben könnte, wäre wohl ein psychologischer. Es dürfte manchen Menschen zunächst vielleicht leichter fallen, sich mit dem Gegenstehenden auseinanderzusetzen, wenn sie den Personenbegriff beibehalten und ebenso die Vorstellung von dem Vorhandensein eines bewußten Planes. Tatsache bleicht allein, daß kein Mensch dem Gegenstehenden gegenüber etwas anderes tun kann, als sich vertrauensvoll in seine Hand zu geben, mit ihm den Ausgleich und den inneren Frieden zu suchen, seine Lebenslinie im Ausgleich mit ihm zu wählen und sie im Vertrauen au ihn willensmäßig zu verfolgen, solange ihm die Möglichkeit dazu gegönnt ist. Ich werde und muß, solange es geht, alles für meine Lebenslinie tun, was ich im Ausgleich mit dem Gegenstehenden dafür tun kann, aber jede stimmungsmäßige Auflehnung dagegen wäre sinnlos, vergeblich und kurzsichtig. Wohl kann und muß es Auflehnung gegen Teile des Gegenstehenden geben, aber gegen die Gesamtheit führt sie zur Vernichtung jeder Lebenslinie überhaupt.

So wird der Mensch einerseits seine Lebenslinie willensmäßig nach bestem Können verfolgen und muß doch andererseits dem Gegenstehenden schließlich die letzte Entscheidung anheimgeben, wieweit es ihm möglich ist, und ob diese Linie überhaupt sich auf die Dauer rechtfertigen läßt. Aber nur dann werden diese tiefsten Entscheidungen im Ganzen genommen zum Besten führen, wenn sei stets im Ausgleich mit dem Gegenstehenden gefällt werden, nur dann wird es möglich sein, den inneren Frieden dabei zu bewahren. so sehen wir die Lage des Menschen in einer Art von dialektischem Ruhen und Schweben im Gegenstehenden, in Gott, wo einerseits der Wille das zu verfolgen trachtet, was Gott ihm als Lebenslinie gegeben hat, und wo dieser Wille doch nicht starr und trotzig wird, sondern in dauernder inniger, elastischer Verbindung mit gott es diesem überläßt, wieweit diese Lebenslinie richtig war und verfolgt werden kann. Dieses dialektische Schweben in Gott ist die Urtatsache des Daseins überhaupt. Erfolgt es in richtiger Art, dann ist es zugleich der Friede, von dem wir dann sagen müssen, daß er schließlich in der Tat höher sei als alle Vernunft.

Werfen wir noch einen kurzen Blick auf die Gesamtheit des Gegenstehenden in seiner als göttlich zu bezeichnenden Wirksamkeit, dann bemerken wir, daß hier wie von selbst alle sog. metaphysischen Fragen verschwunden sind. Dieser Gott ist nicht hinter dem Gegenstehenden, er hat es auch nicht geschaffen, er ist es selbst. Und dennoch ist dieses nicht etwa ein Pantheismus oder ein Materialismus. Die Gesamtheit des Gegenstehenden ist weder geistig noch materiell, sie liegt logisch weit vor diesen Begriffen, die allein der menschlichen Konstruktion angehören. Der Pantheismus sieht Gott in der Außenwelt, das Gegenstehende aber umfaßt ebensosehr meine Innenwelt.

Nun ist noch eine wichtige Ergänzung hinzuzufügen. Wir haben bemerkt, daß nur die Gesamtheit des Gegenstehenden sich wie der Gott der höchsten religiösen Genien verhält. Dies ist jedoch niemals der Fall bei irgendeinem einzelnen Stück oder Teil des Gegenstehenden. Wollte man versuchen, solche Teile zur Gotteswürde zu erheben, so wäre das einerseits niemals beweisbar, es wäre vielmehr beweisbar, daß es notwendig zum Falschen führen muß. Um es in der Sprache der Propheten zu sagen, wäre jedes solche Unterfangen ein Götzendienst im eigentlichen Sinne. Dennoch aber gibt es bestimmte Teile des Gegenstehenden, die in einer besonderen Weise herausgehoben sind gegenüber den übrigen und das sind die anderen Menschen. Wir sahen, daß wir im Unberührten unmittelbar an deren Innerem oder Seelischem teilhaftig sind, daß sie auf diese Weise mit unserem Ich-Kern eine Nähe der Verbindung haben wie nichts sonst auf der Welt. Es ist, wie wenn wir sie wenigstens teilweise in uns, in unserem eigenen inneren Erleben besäßen, als ob sie beinah Stücke von unserem Kern-Ich wären. Wenn wir nun von der Gesamtheit des Gegenstehenden sprechen, ohne besondere Unterschiede zu machen, so muß das nicht, kann aber bei Einzelnen die Gefahr mit sich bringen, sozusagen alle Teile des Gegenstehenden für gleich zu achten. Wer wirklich im Ausgleich mit dem Gegenstehenden steht, für den wird die Gefahr nicht groß sein, hier irregeführt zu werden. Aber die Möglichkeit dazu besteht. Darum bedarf es sozusagen noch einer Ergänzung zu der Lehre von Gott, einer Ergänzung, die darin besteht, daß diese herausgehobenen Teile des Gegenstehenden, eben die Nebenmenschen, auch bewußt eine Heraushebung erfahren als sozusagen Stücke von mir selbst. Und diese Heraushebung wird darin bestehen müssen, daß das Bestreben, mit der Gesamtheit des Gegenstehenden zum Frieden zu kommen, sich bei ihnen besonders geltend macht, da dieser Friede bei unserer inneren unmittelbaren Verbindung mit ihnen gerade von ihnen aus besonderer Bemühungen bedarf. Das aber bedeutet, daß ich, der ich für sie zum Gegenstehenden gehöre, bei der Suche nach dem Ausgleich ihre Lebenslinie gelten lasse, ja diese nach Kräften fördere, daß ich sie mit einem Worte liebe. Das aber scheint mir der wesentliche Kern des Christentums zu sein, das sich also als eine Art notwendige Ergänzung und eine notwendige Seite unserer Stellung in und zu der Welt überhaupt erweisen läßt.

Ich fürchte, ich habe Ihnen etwas viel zugemutet. Wir sind von methodischen Untersuchungen über die exakte Naturerkenntnis schließlich bis zu den Gegenständen der Religion gelangt (und dies nicht zufällig; denn wir mußten erkennen, wie im Methodischen beide begründungsmäßig zusammenhängen), wobei wir allerdings immer nur die einfachsten Grundlinien der Gedanken geben konnten. So mag die Fülle der Probleme, die uns auf unserer Wanderung begegnet sind, Ihnen wohl momentan etwas verwirrend erscheinen.

Aber über einen Punkt, der mir entscheidend erscheint, wollen wir uns noch einmal bewußt Rechenschaft geben. In unseren ganzen Darlegungen kamen nirgends irgendwelche Hypothesen vor, nirgends metaphysische Annahmen, nichts Transzendentes, keine Vermutungen oder Unsicherheit irgendwelcher Art. Durch unsere ganze Wanderung hindurch sind wir stets mit beiden Füßen im Festen, auf gewachsenen Boden geblieben, nämlich im unmittelbar Gegebenen und in nüchternsten, stets genau nachprüfbaren, meist ziemlich einfachen logischen, absolut bindenden Schlüssen und Begriffsbildungen. Und dennoch sind wir dabei bis zu den letzten Geheimnissen unseres Lebens und bis zum letzten, für uns aussprechbaren Wesen der Welt und Gottes gelangt. Es zeigt sich also, daß es möglich ist, daß man in diesen Fragen vielfach wirklich echte Sicherheit erlangen kann und daß nur die Methodik der Weg ist, der zu solcher Sicherheit führt. Das mag vielleicht manchem etwas geben, was ihm wünschenswert erscheint, und was er bisher entbehren mußte.

 

 

[1]) Näheres siehe in meinem Aufsatz »Über die letzte Wurzel der exakten Naturwissenschaften«, Sonderveröff. d. Univ.-Sternwarte Wien, 1942.

[2]) Siehe auch mein Buch: »Die Methode der Physik« (München, E. Reinhardt 1938).

[3]) Ich habe diesen Begriff zum ersten Male im Jahre 1942 in seiner obigen Bedeutung aufgestellt.

 

In: Hugo Dingler: Gesammelte Werke auf CD-ROM, im Auftrag der Hugo-Dingler-Stiftung, Aschaffenburg, herausgegeben von Ulrich Weiß unter Mitarbeit von Silke Jeltsch und Thomas Mohrs, Verlag Karsten Worm InfoSoftWare, Berlin 2004 [Formatreduzierter Reintext-Auszug aus der CD-ROM-Ausgabe. CD-ROM-Sigle: 127].

 

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